“In Friedewalde lacht mich keiner aus”

Idylle auf dem Land: Annika Lüttge (links) und ihre Familie haben nicht nur ein Bett im Garten, das als Hochbeet genutzt wird, sondern sie hatten auch Platz für weitere Betten im Haus. Hildegard Heidger (Mitte) und Ingrid Peitzmeier nutzen das Betreute Wohnen in der Familie – ein Wohnangebot für Menschen mit Behinderung mit Familienanschluss. Fotos: Anke Marholdt

Friedewalde (AM). Familie Lüttge hat ein Bett im Garten. Es wurde im Haus nicht mehr gebraucht und ist jetzt ein ideales Hochbeet für Kräuter, Salat und anderes Gemüse. Im Haus war Platz für weitere Betten, deswegen hat zunächst die Familie von Anita Lüttge und später auch ihre Tochter Annika die Türen für Gäste geöffnet. Ein Mann, der mittlerweile im Rentenalter ist, lebt seit fast 13 Jahren dort. Ingrid Peitzmeier ist vor vier Jahren nach Friedewalde umgezogen, zwei Jahre später Hildegard Heidger. Familienanschluss haben alle drei, ebenso wie ein junger Mann, der als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland gekommen ist.

Für Ingrid Peitzmeier ist damit ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen: „Ich wollte gerne auf dem Bauernhof leben.“ Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist der Hof von Familie Lüttge schon lange nicht mehr, aber es gibt Ponys, Pferde, Katzen und Hunde. Das ist genau das, was sich die  65-Jährige gewünscht hat. Sie macht gerne einen kleinen Spaziergang zu den Ponys oder beobachtet die Katzen, wenn sie auf ihrem Lieblingsplatz vor dem Haus sitzt und dort gerne mit Oma Frieda, dem ältesten Familienmitglied der Familie Lüttge, einen Plausch hält. Für Hildegard Heidger war es ganz wichtig, dass ihr Hund Patita ebenso herzlich in der Familie aufgenommen wurde, wie sie selbst. Auch die Frührentnerin liebt Tiere und hat eine der kleinen Hofkätzchen mit der Flasche aufgezogen.

„Die andere Katze heißt Kai. Ich habe ihr den Namen Kai gegeben“, berichtet Peitzmeier stolz, die sich irgendwann einen Besen gesucht und den Hof gefegt hat: „Das mussten wir früher immer im Goldkreuz machen“, berichtet Peitzmeier, die seit ihrem vierten Lebensjahr auf dem Wittekindshofer Gründungsgelände in Bad Oeynhausen-Volmerdingsen gelebt hat. Heute nutzt sie das Betreute Wohnen in Familien und lebt bei Familie Lüttge. Sie hat ein eigenes Zimmer und zusammen mit Hildegard Heidger eine kleine Wohnung mit Bad und Küche. Zum Mittagessen treffen sich am Wochenende alle im Untergeschoss. In der Woche ist die Runde kleiner, weil die einen bei der Arbeit sind oder an Tagesstrukturierenden Angeboten teilnehmen, die der Wittekindshof für Menschen mit Behinderung im Rentenalter anbietet.

„Hildegard hat viele Ideen, was wir kochen könnten. Wir probieren es zusammen aus. Wir haben auch schon viel frisches Gemüse aus unserem Bett im Garten verarbeitet. Sie hilft gerne beim Kochen und Backen und hat viele Handgriffe bereits gelernt“, berichtet Annika Lüttge, die sich freut, dass die beiden Frauen sich auch um die Spülmaschine kümmern und die Wäsche legen. Regelmäßig fährt Anita Lüttge mit Ingrid Peitzmeier zum Einkaufen, weil der Fußweg zu weit ist. Hildegard Heidger erledigt Einkäufe selbständig mit ihrem Fahrrad: „Radfahren habe ich erst hier gelernt, jetzt bin ich oft unterwegs und die Menschen grüßen mich freundlich. Keiner lästert, weil ich mit drei Rädern fahre“, freut sich die Frührentnerin, die früher auch mal ganz alleine in einer Wohnung gelebt hat, aber von Nachbarn Hänseleien erlebt hat auch wegen ihres Hundes Patita, der auf drei Pfoten läuft. Sie freut sich, dass sie durch das Fahrrad viel mobiler und selbständiger geworden ist. Trotzdem genießt sie gemeinsame Ausflüge und erinnert sich besonders gerne an den ersten Besuch im Dorfgemeinschaftshaus: “Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben getanzt. Hier in Friedewalde lacht mich keiner aus!“.

Annika und Anita Lüttge und ihr Ehemann Wilhelm haben die Entscheidung, fremden Menschen in ihr Haus und in ihre Familie aufzunehmen, noch nie bereut. „Das Zusammenleben macht einfach Spaß. Wir helfen, wo es nicht alleine klappt, und überlegen gemeinsam, wenn sie uns um Rat fragen. Wir hören so oft ein Dankeschön, da lernt man die kleinen Dinge wieder zu schätzen“, berichtet Anita Lüttge, die wie ihre ganze Familie froh ist, dass sie auch selbst Unterstützung durch das Wittekindshofer Fachteam bekommt: „Regelmäßig kommt eine Mitarbeiterin vorbei und wir besprechen alles, was anliegt. Außerdem können wir zwischendurch immer anrufen und wenn wir selbst mal nicht für die Betreuung sorgen könnten, organisiert das Wittekindshofer Team eine Alternative.“

Seitdem vor wenigen Monaten ein Zeitungsbericht erschienen ist, wird vor allem Annika Lüttge, die im Lebensmitteleinzelhandel arbeitet, immer wieder angesprochen auf das Wohnangebot für Menschen mit Behinderung im privaten Lebensumfeld: Im Juli hatten sie deswegen zu einem Infotag eingeladen, denn sie wollen anderen Familien und Einzelpersonen Mut machen, die Türen für einen Menschen mit Behinderung zu öffnen: „Es gibt doch in unserer Gegend so viele Menschen, die Platz im Haus haben. Wer Familienanschluss bietet, bekommt ganz viel Schönes zurück“, sind sich alle Angehörige der Familie Lüttge einig.

Dieser Beitrag, inklusive Fotos, stammt von Anke Marholdt, Pressesprecherin Wittekindshof


Betreutes Wohnen in Familien
Betreutes Wohnen in Familien ist ein Wohnangebot mit Familienanschluss für Menschen mit Behinderung oder psychischer Beeinträchtigung. Entscheidend ist nicht der Trauschein, sondern die Bereitschaft, eine Person aufzunehmen, mit ihr den Alltag zu teilen und da zu unterstützen, wo es nötig ist. Das Wittekindshofer Fachteam begleitete und unterstützt die Familien und kümmert sich um alternative Betreuung bei Urlaub und Krankheit. Beim Wittekindshofer Fachteam haben sich mehrere Personen mit Behinderung oder Beeinträchtigungen gemeldet, die Familienanschluss suchen und in der Stadt leben wollen. Deswegen sucht das Fachteam zurzeit ganz konkret auch Familien und Einzelpersonen in Minden und anderen Städten. Kontakt: Wittekindshof, SoLe-Bereichsleitung Kirsten Lüking, Telefon: (05731) 303 70-25 oder kirsten.lueking@wittekindshof.de

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