Die Kraft der alten Dörfer

Selbst im Dorf aufgewachsen: Prof. Dr. Ulrich Harteisen. Foto: Frank Stefan Kimmel

Bielefeld. Die Neue Westfälische hat im überregionalen Teil ihrer Ausgabe vom 7. November 2019 einen Bericht über die Zukunft der Dörfer veröffentlicht. NW-Mitarbeiterin Lieselotte Hasselhoff hat dazu mit Ulrich Harteisen gesprochen. Der Professor für Regionalmanagement und regionale Geografie an der Universität Göttingen teilt die teilweise düsteren Prognosen für den ländlichen Raum in Ostwestfalen-Lippe so nicht. Die Veröffentlichung des Beitrags an dieser Stelle erfolgt durch freundliche Genehmigung des stellvertretenden Chefredakteurs der Neuen Westfälischen, Carsten Heil.

Er ist in Paderborn geboren und in Altenbeken aufgewachsen. Das Landleben kennt Ulrich Harteisen seit seiner Kindheit. Inzwischen ist er Professor für Regionalmanagement und regionale Geografie in Göttingen. Am Zukunftszentrum Holzminden-Höxter ist er Sprecher der Forschungsgruppe Dorf. Im Gespräch mit der Neuen Westfälischen verrät er, wie er sich die Zukunft der Dörfer vorstellt.

Der ländliche Raum

„Wir sprechen nicht mehr von DEM ländlichen Raum, sondern wir verwenden den Plural: In OWL gibt es die wirtschaftsstarken ländlichen Räume, wie auf der Achse Gütersloh – Bielefeld – Herford.“ Es gibt aber auch das genaue Gegenteil: „Im Kreis Höxter haben wir einen ländlichen Raum, der sehr dünn besiedelt ist.“ In Zahlen: „Im Kreis Herford leben 557 Einwohner pro Quadratkilometer – im Kreis Höxter sind es 117.“

Sterben die Dörfer aus?

„Bezogen auf Ostwestfalen-Lippe würde ich das mit einem klaren Nein beantworten“, sagt Harteisen. „Die Dörfer verändern sich, aber sie verschwinden nicht von der Landkarte.“ Was sich ändert: „Viele Menschen leben im Dorf, arbeiten aber im städtischen Kontext.“ Andere ziehen ganz weg: „Wenn heute über 50 Prozent eines Jahrgangs Abitur machen, dann beginnen sie danach ein Studium oder eine Ausbildung und das findet in einer Stadt statt.“ Wer einmal in der Stadt lebt, hat wenig Gründe, in sein Dorf zurückzukehren. „Die jungen Menschen knüpfen soziale Kontakte, gründen Familien, finden vielleicht aus dem Studium heraus einen Arbeitsplatz.“ In der Folge fehlen auf dem Land Fachkräfte. „Wir haben in OWL diese starke Wirtschaftsachse Bielefeld – Gütersloh – Herford. Dort sind ja Industrieunternehmen, mittelständische Unternehmen, handwerkliche Betriebe.“ Was die Leute mehr interessiert als die Arbeit: „Ist eine Kita da, eine Grundschule, ein Nahversorger, Kulturangebote?“

Was ist mit den Alten?

„Einsamkeit im Alter ist nicht nur ein Dorf-Problem“, sagt Harteisen. „Das gibt es in Städten genauso.“ Er diagnostiziert eine generelle Veränderung sozialer Beziehungen: „Heute ist es normal, dass verschiedene Generationen einer Familie an unterschiedlichen Orten leben.“ Allerdings sind die Auswirkungen auf dem Dorf andere – zum Beispiel, wenn der Dorfladen zumacht oder der nächste Arzt 30 Kilometer entfernt ist. „Digitalisierung“ ist ein Stichwort, das Harteisen deshalb immer wieder aufgreift. „Wir müssen älteren Menschen Unterstützung anbieten sich in der digitalen Zeit zurechtzufinden“, sagt er. „Ich kenne schon viele Ältere die mit dem Tablet zurechtkommen, so Kontakt zu ihrer Familie pflegen und digital Einkäufe erledigen.“

Per Computer zum Arzt

„Digitalisierung“ ist auch ein Zauberwort, wenn es um den Kontakt zu Ärzten geht. „Ein gesundheitliches Problem muss nicht immer gleich vom Arzt behandelt werden“, sagt Harteisen. „Menschen, die dafür geschult sind, könnten Patientendaten aufnehmen und an einen Arzt übermitteln.“
„In meiner Jugend gab es in den Dörfern eine Gemeindeschwester“, erzählt Harteisen. Zwar konnte sie den Arzt nicht ersetzen, doch das sei auch nicht nötig: „Eine Art Gemeindeschwester könnte heute den Blutdruck messen, zu Hause bei der Pflege unterstützen und den Kontakt zum passenden Arzt herstellen.“ So könnte der Arzt dann auch aus der Ferne dem Patienten eine Diagnosen erstellen.

Selbst machen?

„In den Dörfern spielt das Ehrenamt eine große Rolle“, sagt Harteisen. „Das war immer so.“ Schlecht sei, wenn Ehrenamtler zu Lückenbüßern würden, wo eigentlich Fachkräfte gefragt sind. „Daseinsfürsorge, Bildung, medizinische Versorgung – das können keine Ehrenamtler leisten.“ Umso wichtiger sind sie aber für die Nahversorgung und das Gemeinschaftsleben: „Dorfläden zum Beispiel sind oft genossenschaftlich organisiert.“ Doch auch dort ist die Politik gefragt. „Sie kann finanziell unterstützen und beratend.“

Mehr als nur Tradition

Harteisen zitiert aus einem Forschungsbericht: „In den Städten ballen sich Kreativität und Kultur, hier findet sich die moderne Wissensgesellschaft, hier entstehen aus der kritischen Masse von klugen Köpfen und Ideen neue Unternehmen und die Jobs der 
Zukunft.“ Er warnt jedoch vor falschen Schlüssen: Diese Dinge gebe es nämlich auch 
auf dem Land. Zum Beispiel: „Kulturinitiativen, die tolle 
Orte in den Dörfern bespielen, wie alte Kirchen oder historische Gebäude. Da hört 
die ganze Dorfgemeinschaft zusammen ein tolles Jazzkonzert.“

Die Zukunft der Dörfer?

„Meine Vision als jemand der gerne im Dorf lebt, ist es, dass die Menschen durch die digitale Anbindung mehr Zeit im Dorf verbringen können.“ Statt täglich mehrere Stunden zur Arbeit zu pendeln, sollten sie mehr Arbeit vom heimischen Computer aus erledigen können. „Wer so Zeit spart, kann sich in der Dorfgemeinschaft engagieren.“ Noch einmal verweist er auf seine Forschung: „In der Literatur ist immer wieder die Rede von der ’Kraft der alten Dörfer’.“ Diese Gemeinschaft erhofft sich Harteisen für die Zukunft der Dörfer. „Das klingt vielleicht sehr optimistisch, aber sie haben mich 
ja nach meiner Vision gefragt.“